Zur Bundespressekonferenz am 26.01.2015

Kindesmissbrauch in Deutschland ist so aktuell wie Kindesmissbrauch auf allen anderen Erdteilen. Kindesmissbrauch ist weltweit. Kindesmissbrauch gibt es seit Menschengedenken.

Prävention von Kindesmissbrauch ist so wichtig wie zum Beispiel Umweltpolitik. Das Phänomen Kindesmissbrauch ist aktuell wie Glaubensfragen. Wie heutige angebliche Glaubenskriege. Kindesmissbrauch spielt in allen Auseinandersetzungen eine furchtbare strategische Rolle, in Friedenszeiten auch. Kindesmissbrauch geht hierarchisch von oben nach unten. Kindesmissbrauch ist so dramatisch aktuell wie die Verbrechen der Boko Haram, des sog. IS, der Taliban. Nur passiert alles hier viel lautloser.

Kindesmissbrauch fängt historisch im Nirgendwo an und hört historisch nirgendwo auf.

Bis heute noch hört Kindesmissbrauch nirgends auf. Ich schreibe das im Jahr 2015.

Kindesmissbrauch ist so lebensentscheidend bedrohlich für die Opfer desselben wie Ebola, (wobei Ebola manchmal glücklicherweise heilbar ist), bedrohlich wie der Tsunami in Indonesien, wie das Erdbeben auf Haiti, wie das Rätselende von MH 370, wie das Leben im heutigen Syrien, beispielsweise. Kindesmissbrauch bedeutet häufig den Verlust allen Vertrauens und aller Hoffnung. Kindesmissbrauch ist für viele der Opfer oft frühzeitig tödlich.

Kindesmissbrauch ist tagesaktuell. Kindesmissbrauch ist immer und überall. Die Medien aber berichten über: den fünften Jahrestag des Erdbebens in Haiti, den zehnten Jahrestag des Tsunamis, die täglichen Opfer der Taliban in Afghanistan und Pakistan. Die Suche nach MH 370. Selten nur über die täglichen Opfer von Kindesmissbrauch. (Und gleichzeitig gilt mein herzlicher Dank den Medienvertretern, – ohne die WIR alle noch deutlich schutzloser wären.)

Wir sprechen von sieben bis neun Millionen Opfern von Kindesmissbrauch allein in Deutschland.

Kindesmissbrauch wird immer noch weitestgehend negiert im öffentlichen Denken. Die von Pädosexuellen missbrauchten Menschen sind offenbar: beschmutzt, selber schuld, sind nicht so wie Ihr.

Ich bin ein sexuell missbrauchtes Kind.

Zur Odenwaldschule: hier hiesse das Zauberwort „Haltung“. Wie hat sich die Schule, wie haben sich andere Täterorganisationen zu ihrer Schuld verhalten, wie verlief in den letzten fünf Jahren die Diskussion mit diesen „traumatisierten Institutionen“? Im Fall der Odenwaldschule muss ich leider eingestehen, dass wir im Grunde auch nach fünf Jahren Bewusstseinsarbeit wieder und noch am Anfang stehen. Gescheitert mit dem Versuch, Verständis für unsere Anliegen zu erreichen, vor allem aber auch in den Gremien der Schule ein Bewusstsein für die Traumatisierung der Opfer zu implementieren.

Reaktionen darauf sind nach fünf Jahren für uns weder spürbar noch erahnbar geworden. – Ich muss hier von den Eltern der gegenwärtigen Schüler  und auch von den Schülern absehen. Sie haben begriffen, dass ohne eine Aussöhnung mit den Opfern und deren Vertretern eine Zukunft der Schule nahezu unmöglich erscheint.  – Nicht so: Teile des Trägervereins, der Mitarbeiterschaft, des Altschülervereins. – Stichwort: macht uns unsere Schule nicht kaputt. Stichwort: Glasbrechen e.V.  ist unser natürlicher Feind. (Einige  der Lehrer der aktuellen Odenwaldschule waren schon zu Zeiten des Verbrechers Gerold Becker vor Ort. Sie schauen uns heute böse ängstlich an.)

Natürlich sind alle inzwischen dokumentierten Vorwürfe mittlerweile verjährt. Die Sprachlosigkeit der Schulverantwortlichen macht uns dennoch fassungslos. Dort oben wohnen sie noch, mit ihren Frauen, in ihren Familien, mit ihren Rentenansprüchen. Wir aber haben bis dato keine Ansprechpartner. Niemand ist uns wirklich wohlgesonnen, auch heute noch nicht!

Die Verweigerungshaltung von Institutionen wie der Odenwaldschule, und damit die bis heute problematische Haltung aller Täterorganisationen, kann m. E. nur dazu führen, die Haltung (!) gegenüber ihren Opfern zum alleinig gültigen Kriterium für weitere öffentliche oder auch private Förderung zu machen. Nichts anderes geht mehr, rien ne vas plus ausser: Wahrheitswahrnehmung, Verantwortungsübernahme, Schuldeingeständis und Empathie. Das müsste der Lakmustest für alle Institutionen sein!

Die Folgen für Opfer des Kindesmissbrauchs sind viel gravierender – immer noch viel gravierender – als die Folgen für jedwede institutionellen Tatorte. Das ist falsch.

Von den Opfern von Missbrauch in Familien, von den Opfern von Missbrauch im familiennahen Umfeld spreche ich hier nicht. Ich denke an sie.

Das führt mich zum letzten Punkt: der Mitwisserschaft.

Annähernd die Hälfte des Lehrpersonals meiner damaligen Schule – das ergeben heutige Erkenntnisse – war sexuell übergriffig gegenüber ihren Schutzbefohlenen. Gut die Hälfte der übrigen Hälfte mag nichts gewusst, mag nichts gesehen haben. Bleibt ein Viertel der Belegschaft, das gesehen, gehört, gewusst  – und nichts getan hat. Keinen Finger gekrümmt – an damals gängigen Telefonwählscheiben beispielsweise.

Niemand wurde informiert. Kein Schulamt. Kein Ministerium. Keine Polizei.

Es ist heute zu befürchten, dass mehr als fünfhundert Kinder und Jugendliche allein an der Odenwaldschule Opfer von päderastischen, pädosexuellen Verbrechern wurden. Opfer beiderlei Geschlechts übrigens. Sowohl als auch. Es gab auch Täterinnen.

Und niemand der vor Ort täglich Anwesenden fühlte sich dazu aufgerufen, Hilfe zu organisieren, dringend benötigte Hilfe von Aussen zu holen. Ganz im Gegenteil: Kinder (!) wurden von Mitwissern zur Abtreibung überredet. Kinder waren schwanger geworden von ihrem Lehrer. Beispielsweise.

Mein Appell geht daher heute an jene, in allen möglichen Bereichen des Kindesmissbrauchs, an die Mütter von Kindern, deren Männer missbrauchen, an die Kollegen und Kolleginnen von Lehrern, die Kinder missbrauchen, an die  Kollegen von Priestern, Pfarrern, Sportlehrern etc. usw.

Mit nur ein wenig mehr Mut, der so unendlich wichtig wäre, könnten Mitwisser jetzt gerade, in dieser Minute, hunderte von Kindern noch vor den fatalen Folgen von Kindesmissbrauch retten. Hier und überall. Jederzeit. Immerzu.

Fazit: ohne die (leider durchaus plausible) Scheu vieler Mitwisser gäbe es deutlich weniger Opfer. Mitwisser werden zu Mittätern, solange sie sich nicht endlich zum Schutz der betroffenen Kinder und Jugendlichen entschliessen.

Adrian Koerfer

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