Was wollten Sie uns sagen, Herr von Hentig?

Dezent elegant kommt es daher, das Buch. Beachtliche 1.392 Seiten wird es haben, heißt es in der Vorankündigung des Verlags. Gezeigt wird da auch schon mal der Umschlag in gebrochenem Weiß, die Schrift sanft pastellig. Dazu das Gesicht des Autors, unverkennbar für all diejenigen, die ihn aus anderen Zeiten noch erinnern. Die Augen sind für einen mittlerweile 90jährigen bemerkenswert wach und voller Neugier.

cover_hentig_HeaderEiner mit so einem Gesicht schreibt Bücher. Dicke Bücher, in denen er – verständlich angesichts des biblischen Alters – der Nachwelt die Summe seines Wissens und seiner Erfahrungen hinterlassen will.

Es ist nicht sein erstes autobiographisches Werk. Aber jetzt hat Hartmut von Hentig sich des Zeitraums der Jahre 2005 bis 2015 angenommen. Unter dem Titel „Noch immer Mein Leben“ beschreibt er vor allem seine Sicht auf den mehrhundertfachen Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule.

Es hätte eine gute, vielleicht seine letzte Chance sein können, den seit 2010 arg ramponierten Sockel für das einsturzbedrohte Denkmal des deutschen Bildungs- und Pädagogikpapstes zumindest notdürftig zu flicken. Stattdessen versteckt er sich, einmal mehr, hinter der Selbstbeschreibung als Ahnungsloser und Unwissender. Wie schon so oft baut er dem Haupttäter und Lebensgefährten Gerold Becker ebenso liebevolle wie verlogene Brücken ans rettende Opferufer.

Unter falscher Bezugnahme auf den Sozialphilosophen Ivan Illich und mit Blick auf die Missbrauchsopfer schreibt er zum Beispiel, „dass der Mensch seine Menschenwürde – das, was ihn vor allen anderen Kreaturen auszeichnet – verliert, wenn er die Verantwortung für sich abgibt oder sie ihm abgesprochen wird. Das macht ihn zum Animal, das der Notwendigkeit und dem Instinkt unterworfen ist ohne freie Entscheidung.“

Spätestens an diesem Punkt wird Hartmut von Hentigs Lebenslügengespinst zur widerwärtigen Revue der Infamie, in der die von Becker & Co körperlich missbrauchten und seelisch fürs Leben zerstörten Kindern und Jugendlichen der Mitverantwortung für die eigene Tragödie bezichtigt werden – nur weil sie sich der pervers-gewaltsamen Geilheit der Täter nicht erwehren konnten.

Vor nichts schreckt von Hentig in seinem Pamphlet zurück. Noch nicht einmal davor, Namen und Kinderfotos einiger Betroffener zu nennen. Mehr Dokumente habe er, raunt er drohend ominös, die er aber aus rechtlichen Gründen nicht zeigen dürfe.

Welche psychischen Auswirkungen eine solche Bloßstellung auf die genannten Menschen haben könnte – kein Thema für den Pädagogen und seine Generalabrechnung.

Was der Tübinger Medien- und Kommunikationsforscher Prof. Dr. Bernhard Pörksen, der die Druckfahnen noch bereitwillig zugeschickt bekam, in einer langen Rezension in der „Zeit“ zu Papier gebracht hat, ist vernichtend.

Pörksen schreibt: „Es ist ein Buch, das den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule als ein einziges Wahrnehmungsdesaster fassbar werden lässt, als eine Serie von Verbrechen, die jene, die Gerold Becker nahe waren, nicht sehen konnten oder wollten, blind für die eigene Blindheit.“ Dafür, dass und was er geschrieben hat, sind wir ihm dankbar.

Zu guter Letzt: Wann das Buch erscheinen wird, ist unklar. Mal wird der Mai genannt, dann wieder August. Auf die mehrfachen Bitten um ein Vorab-Leseexemplar auch für Glasbrechen hat der wamiki-Verlag bis heute nicht geantwortet.

Und schließlich noch an die Adresse von Hartmut von Hentig:

Si tacuisses, philosophus mansisses.

Aber wenn er schon nicht schweigen konnte, um wenigstens den letzten Rest seines ruinierten Rufes zu retten, dann hat er zumindest bei der Wahl des Verlages eine interessante Entscheidung getroffen:
wamiki steht für „Was mit Kindern“.

So war das nämlich an der Odenwaldschule, Herr von Hentig: was mit Kindern…

Oder was wollten Sie uns sagen?

Link zur ausführlichen Buch-Rezension von Herrn Pörksen in der „Zeit“

Johannes von Dohnanyi
für den Vorstand von Glasbrechen e.V.

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