Stellungnahme des Glasbrechen e.V.

Öffentliche Anhörung des Rechts- und Integrationsausschusses und des Sozialpolitischen Ausschusses des Hessischen Landtags
Stellungnahme des Glasbrechen e.V.

Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 16. März 2011 und die Einladung zu der öffentlichen Anhörung am 25. Mai 2011 in Wiesbaden.
Gern nehmen wir die gebotene Gelegenheit wahr, um schriftlich vorab Stellung zu nehmen.


I. Wer ist Glasbrechen e.V. und was wollen wir?

  1. Am 4. September 2010 wurde Glasbrechen e.V. von ehemaligen Schülern der Odenwaldschule gegründet und rund 2 Monate später als gemeinnütziger Verein eingetragen.
    In Glasbrechen sind inzwischen viele Betroffene und nicht-betroffene ehemalige Schüler organisiert, die sich für die Interessen der betroffenen Ex-Schüler einsetzen. Hinzu kommen derzeitige Mitarbeiter der Schule, wie auch ehemalige Lehrer und Lehrerinnen. Drei ehemalige Vorstandsmitglieder des Trägervereins der Odenwaldschule (seit 05.2010) sind Mitglieder bei Glasbrechen, darunter auch die beiden zurückgetretenen Sprecher des Trägervereins. Hinzu kommt jetzt auch der ehemalige Landrat des Kreises Bergstrasse, Norbert Hofmann. Die von der Schule seinerzeit beauftragten “Aufklärerinnen” – Frau Burgsmüller und Frau Tilman – sind Mitglieder; Anwälte, Ärztinnen und Juristen, die teils selbstlos Opfer der Verbrechen auf der OSO vertreten, Psychologinnen und Finanzfachleute ebenso. Zwei Mitglieder des 2010 personell „erneuerten“ Trägervereins sind ebenfalls bis dato zu Glasbrechen gestoßen.
  2. Im Einzelnen können Sie die Ziele von Glasbrechen aus der anliegenden Kopie unserer Satzung ersehen.
  3. Zum Anlass der Vereinsgründung im weiteren Sinne verweisen wir auf die umfangreichen Presseveröffentlichungen zum Thema „Missbrauch an der Odenwaldschule“ und die drei Berichte der von der Schule beauftragten Ermittlerinnen, Frau vorsitzende Richterin am OLG i.R. und ehemalige Präsidentin des OLG Frankfurt Brigitte Tilmann und Rain Claudia Burgsmüller.

II. Was hat Glasbrechen seit vergangenem Herbst getan?

  • Wir haben einen Beirat eingerichtet, der sich mit der Verteilung möglicher Kompensationsgelder schon jetzt beschäftigt; und zwar vordringlich mit dem Thema, wie das unter Wahrung des Persönlichkeitsschutzes transparent, menschlich und auch aus Sicht der Betroffenen nachvollziehbar erfolgen kann.
  • Wir sind durch Eigeninitiative beteiligt am Runden Tisch der Bundesregierung, der von Frau Dr. Bergmann organisiert und einberufen wurde.
  • Wir haben uns, unter strikter Beachtung des Datenschutzes, an alle bekannten Opfer mit der Bitte gewandt, uns zu sagen, was jeder/jede Einzelne erwartet oder sich wünscht – von uns im Rahmen unserer Satzung und von der Schule.
  • Wir haben ein erstes fachlich kompetent geführtes Projekt für die Betroffenen auf den Weg gebracht, aus dem weitere Angebote für Gruppen oder Einzelne hervorgehen sollen. Voraussichtlich wird es vor Juni 2011 stattfinden.
  • Wir suchen nach Wegen, die wissenschaftliche Aufarbeitung der Taten zu fördern. Für die Aufarbeitung müssen nicht unerhebliche Mittel mobilisiert werden. Sie soll frei von Einflussnahmen aus dem Kreis der im weiteren Sinne Beteiligten erfolgen. Hier stehen wir ganz am Anfang.

III. Wünsche und Forderungen von Glasbrechen e.V. an die Politik

Glasbrechen solidarisiert sich unabhängig von Tatzeit und Tatort mit allen Betroffenen sexualisierter Gewalt.

  • Glasbrechen fordert im Zusammenhang mit pädosexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen – wo auch immer sie geschieht – Verjährungsfristen (zivil- wie strafrechtlich), die ihnen eine wirksame Rechtsverfolgung ermöglichen, sobald sie dazu tatsächlich die Kraft und innere Möglichkeit haben.Mord verjährt – erst seit den siebziger Jahren – als einzige Straftat nicht. Der pädosexuelle Missbrauch an Kindern allerdings lässt die Opfer wie die Täter weiterleben – die Täter in aller Regel ungestraft, die Opfer bestraft für ihr Leben. Die bestehenden Verjährungsregelungen verhindern eine gerichtliche Klärung.
  • Glasbrechen fordert größere und nachhaltigere Anstrengung durch Schaffung von Tatsachen seitens der Gesetzgeber, der zuständigen Behörden, sowie der von der Bundesregierung eingerichteten Gremien zur Prävention und Aufklärung der pädosexuellen Gewalt an Kindern und Schutzbefohlenen.Glasbrechen setzt sich dafür ein, ein für die Tatbegehung ungünstiges Umfeld zu schaffen. Das erfordert, dass die Personen in diesem Umfeld früher und eher geneigt sind, einzugreifen. Das setzt zunächst voraus, dass es dem weiteren Umfeld erschwert wird, Druck auf Eingreifende auszuüben. Es setzt weiter voraus, dass ein Rahmen geschaffen wird, in dem geeignete Maßnahmen schnell so ergriffen werden, dass in jeder Richtung die Menschenwürde gewahrt wird. Bedenkt man, dass anfangs die Hinweise auf eine Tatgefahr diffus sein können, ist es auch nötig, einen Tatverdacht für potentielles Opfer und möglichen Täter schonend ausräumen zu können, wenn er nicht begründet ist. Am Ende soll so gut es geht gewährleistet sein, dass der Täter keine Gelegenheit erhält, auf potentielle Opfer zuzugreifen; und zwar zunächst bis zur Klärung der Umstände, sowie bei begründetem Verdacht bis auf Weiteres.Glasbrechen spricht sich auch dafür aus, potentiellen Tätern die Möglichkeit zu geben, mit fachlich qualifizierter Anleitung zu lernen, wie sie nach Kräften vermeiden, Taten zu begehen. Sie sollten hierzu auch verpflichtet werden können.Glasbrechen hält eine Verstärkung der Bemühungen für wesentlich, Kinder und Jugendliche zu „stärken“ und zu befähigen, sich Übergriffen zu widersetzen und die Täter laut zu benennen.
  • Das Strafrechtsystem ist Angeklagtenzentriert gestaltet. Das hat seine guten Gründe und fußt in der s.g. Unschuldsvermutung. Im Zivilprozess – meist auf Schadenersatz aber auch Unterlassung von Anschuldigungen gerichtet – sind Opfer Partei wie jede andere. Egal, wie man es dreht oder wendet, tragen die Verfahren ihrer oft fragilen Verfassung nicht zureichend Rechnung. Leicht werden sie unerträglichen Befragungsmethoden ausgesetzt oder durch die Presse ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Die Öffentlichkeit orientiert sich dabei leicht an spektakulären Verfahren, wie sie in Frankreich, Worms oder Mannheim stattfanden bzw. -finden, ohne die Vielzahl jener Fälle zu berücksichtigen, in denen sich der Tatverdacht bestätigte. Das Thema ist schwer angemessen zu bewältigen.Gleichwohl fordert Glasbrechen nachdrücklich eine einfühlende, fürsorgliche Behandlung aller Opfer von pädokriminellen Tätern in jeder Art von Verfahren; sei dies vor Behörden oder Gerichten. Auch Opfer, die später dem Kindesalter entwachsen sind, sollten so geschützt werden, wie jugendliche Missbrauchsopfer, die vor Gericht oder Behörden gezogen werden.

IV. Wünsche und Forderungen von Glasbrechen e.V. an die Politik in Hessen

Die allgemeinen Forderungen von Glasbrechen richten sich im Wesentlichen an den Bundesgesetzgeber. Unsere Wünsche und Forderungen an das Land Hessen betreffen vor allem das Verhalten der zuständigen Landesbehörden und Ämter.

  • Wen man auch fragt – alle erklären sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei abscheulich. Allein, im Angesicht des Verdachts oder der Tat ist das engere und weitere Umfeld dann seltsam verstock, schaut weg, und nimmt eine abwehrende Haltung ein, statt tatkräftig zu helfen. Das hilft den Tätern. Behörden und Ämter exponieren sich bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben ungern und nehmen leicht eine als ‚defensiv’ zu qualifizierende Haltung ein. Die Opfer sind nicht nur im Verhältnis zum Täter ‚verstrickt’ und fühlen sich befleckt oder schuldig. Ab dem Tag, an dem sie die Tat und den Täter benennen können, sehen sie sich einem Stigma ausgesetzt. Vor allem bei im gesellschaftlichen Umfeld gut beleumundeten oder beliebten Tätern erfahren sie weniger Solidarität, denn Zweifel oder verdeckte Ablehnung. Schnell mobilisiert werden hier zur Diskreditierung der Opfer Beispielsfälle, in denen der Verdacht sexueller Gewalt sich später als unbegründet erwies.Das Land Hessen ist aufgerufen, die verantwortlichen Mitarbeiter von Ämtern und Behörden so zu schulen, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst nicht in solche Verhaltensmuster verfallen und der Entstehung oder Verfestigung dieser Muster im Umfeld entgegenwirken.
  • Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen wird zu sehr auf das Strafrecht geschaut. Das vorrangige Ziel von Glasbrechen ist, dass möglichst wenige dieser Taten geschehen. Glasbrechen wünscht sich vom Land Hessen kreative Kampagnen, mit denen das nähere und weitere Täterumfeld zum frühzeitigen Hinschauen und zur Intervention mit Augenmaß angehalten wird. Das wird es erfordern, dass nach Kräften vermieden wird, im letztlich nicht gerichtsfest zu konkretisierenden Verdachtsfall all jene, die tätig wurden, mit disziplinarischen oder sonstigen rechtlichen Konsequenzen zu ‚überziehen’. Denn Glasbrechen hat den Eindruck, dass Wegschauen und Negieren zu einem guten Teil der Furcht geschuldet ist, negative Konsequenzen erleiden zu müssen.Ziel sollte sein, die (potentiellen) Täter für alle Beteiligten schonend aus dem beruflichen oder sonstigen Umfeld herauszunehmen, in dem sie mit potentiellen Opfern in zu engen Kontakt geraten können.Konkret wünscht sich Glasbrechen vom Land Hessen deshalb eine wissenschaftlich fundierte Entwicklung von Handlungskonzepten, die dann durch Schulungen der Verantwortlichen in Behörde und Schulen, sowie auch der Kinder und Jugendlichen im Unterricht dauerhaft umgesetzt und ständig beobachtet und verbessert werden.
  • Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule erschreckt, wie lange der Tatzeitraum ist und wie verspätet die Taten ins Blickfeld geraten sind. Glasbrechen fordert eine Überprüfung der damaligen hessischen Kontrollorgane (Staatsanwaltschaften, Ermittelnde Polizei, Schulaufsichtsbehörden, Trägerverein, Hessisches Kultusministerium [hier Holzapfel: – es sollen dort angeblich Akten im Zusammenhang mit der Odenwaldschule verschwunden sein]). Es sind dabei die Mechanismen und Verhaltensmuster aufzudecken, die letztlich den Tätern zugute kamen.
  • Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf der Aufsicht von Landesbehörden unterliegenden Einrichtungen werden nach Eintritt von Taten Verfahren in Gang gesetzt, die auf Sanktionen zielen – wie dem Entzug von erforderlichen Erlaubnissen. Es ist klar, dass die Angst vor derartigen Konsequenzen die betroffenen Einrichtungen dazu motiviert, Vorfälle zu verschweigen oder zu unterdrücken. Es wird also staatlicherseits ein falscher Anreiz gesetzt. Glasbrechen spricht sich demgegenüber dafür aus, einen Problemlösungsorientierten Absatz zu verfolgen. Das bedeutet, dass die Landebehörden sich vordringlich auf die Intervention zur Bestandaufnahme und Verbesserung der internen Prozesse in der ‚befallenen’ Einrichtung konzentrieren sollten und – wenn noch nicht geschehen – befugt werden müssten, hier Auflagen zu machen. Verwaltungsmäßige Sanktionen sollten nur ultima Ratio sein, wenn eine Verbesserung scheitert. Im Übrigen sollte personenbezogen vorgegangen werden; z.B. gegen Vertuschungs- oder Unterdrückungsversuche als Amtspflichtverletzung.
  • Glasbrechen wünscht sich vom hessischen Landtag Unterstützung für die wissenschaftliche Aufarbeitung der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule und des passiv fördernden weiteren Umfelds, das diese über einen so langen Zeitraum ermöglichte. Als qualifizierter Wissenschaftler kommt hier Prof. Dr. Jörg Fegert (Universitätsklinikum Ulm) in Betracht, der willens und in der Lage ist, ein entsprechendes Projekt zu konzipieren und durchzuführen, wenn er dazu von unbeteiligter Seite beauftragt wird. Glasbrechen würde ihn durch seine Mitglieder bei der Informationsgewinnung unterstützen. Das erforderliche Budget überschreitet die Möglichkeiten von Glasbrechen bei weitem. Glasbrechen will seine Mittel für die Betroffenen einsetzen. Glasbrechen bittet deshalb den hessischen Landtag hier um Hilfe und möchte mit den zuständigen Stellen in Hessen zu diesem Projekt ins Gespräch kommen.
  • Schließlich wünscht sich Glasbrechen eine nachhaltige öffentliche Debatte über Schuld, Sühne und damit auch einen Ausgleich der von den Opfern erlittenen Nachteile. Glasbrechen hofft, dass der hessische Landtag sich hierbei energisch engagiert. Glasbrechen bedauert, dass die derzeitige öffentliche Debatte die Opfer aus dem Blick verliert, weil sie die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule in Zusammenhang mit behaupteten ‚Geburtsfehlern’ der Reformpädagogik thematisiert. Das verstellt den Blick auf das Wesentliche und mobilisiert Abwehreaktionen, die – wohl ungewollt – den Tätern und ihren Gehilfen nutzen.Allerdings wird irgendwann getrennt der Frage nachgegangen werden müssen, wie die Täter ihr Umfeld so manipulieren konnten, dass reformpädagogisches Gedankengut von innen heraus erst usurpiert und dann pervertiert werden konnte.

Glasbrechen e.V. ist jederzeit an einem offenen Dialog mit allen interessiert, die sich darauf einlassen wollen

Hochachtungsvoll,

Glasbrechen e.V.
Der Vorstand

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