Lieber Cem (Özdemir),
liebe Simone (Peter)
lieber Marcus (Bocklet),
liebe Elkin (Deligöz),
lieber Michael (Kellner),
liebe Mitglieder der Arbeitsgruppe „Pädophilie“,
liebe Delegierte,
meine Frau riet mir, Euch zu siezen. Ich habe mich entschieden, Sie zu duzen.
Euch allen herzlichen Dank für euer teilweise schon frühes Interesse an unserer Sache und daher auch für die Einladung, hier vor Euch allen sprechen zu dürfen.
Kindesmissbrauch hinterlässt auch Spuren im Hirn. Unter bestimmten Bedingungen lassen sich die Hinterlassenschaften von Kindesmissbrauch in den Hirnen erwachsener Opfer als Verletzung an einer ganz bestimmten Stelle nachweisen. Das entnahm ich vor Jahren der Süddeutschen Zeitung.
„Es handelt sich vermutlich um die Störung eines umfassenden Netzwerkes, in dem autobiographische Erinnerungen gespeichert und mit emotionalen Beiwerten verbunden werden. Ähnliches ist bei posttraumatischen Verhaltensstörungen zu erwarten.“ Das schrieb mir neulich Professor Wolf Singer aus Anlass meines Vortrages bei Euch.
„Kindesmissbrauch ist Seelenmord“ sagt Frau Professor Luise Reddemann.
Was will uns das bedeuten? Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, keine Tat nach Gutsherrenart, – wie Alice Schwarzer neulich noch pointiert formulierte, – Kindesmissbrauch versetzt die Opfer desselben in eine fatale, lebenslänglich anhaltende Form der Persönlichkeitsveränderung. Ich spreche hier von mir: ich selbst hatte Jahrzehnte lang das Gefühl, immer zu versagen. Immer eben gerade nicht stark zu sein, wo ich hätte stark sein müssen, immer gerade nicht nein zu sagen, wo ich hätte nein sagen müssen, und jede mögliche, dauerhafte Nähe eines anderen Menschen bei mir wurde auf seelische Prüfstände gestellt, gegen die das Laufen über luftige Hängebrücken in größter Höhe ein Kinderspiel ist.
Viele Opfer päderastischer und pädosexueller Verbrechen –
kleiner Exkurs: die wenigsten Täter und Täterinnen im Bereich des Kindesmissbrauchs sind sog. Pädophile. Die meisten von ihnen sind ganz gewöhnliche Kriminelle, die ohne jedes Gedenken an die Folgen ihrer Taten Kinder selbstsüchtig missbrauchen, benutzen, erniedrigen, in Abhängigkeiten zwingen, sie unendlich tief hinabziehen und beschmutzen. Exkursende.
Viele Opfer des pädosexuellen Kindesmissbrauchs kommen bis heute kaum vor die Tür, sind nicht in der Lage, Anträge auf Anerkennungszahlungen zu stellen, sind nicht in der Lage zu Ämtergängen. Und viele Opfer des pädosexuellen Missbrauchs aus den siebziger und achtziger Jahren sind heute bereits tot. Früh verstorben. Wir haben es mit einem schweren Thema zu tun.
Wir Opferverbände und Hilfsorganisationen gehen von folgenden Zahlen auch heute noch aus: – jeweils ohne alle Dunkelziffern!
– jedes vierte Mädchen, jeder achte Junge wird zum Opfer pädokriminellen Missbrauchs im Lauf der Schulzeit
– ungefähr 40 Kinder werden pro Tag Opfer von Missbrauch (laut BKA 2011)
– ca. 15.000 Kinder werden also in Deutschland jährlich neue Opfer pädosexueller Verbrechen
– jedes zweite Mädchen im Bereich von Behinderteneinrichtungen wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Opfer von pädosexueller Gewalt in der jeweiligen Einrichtung
Heute sprechen wir von sechs bis acht Millionen erwachsenen Opfern päderastischen Missbrauchs in der BRD …..
Meine vier Mantren des Kindesmissbrauchs lauten:
– jeder sexuelle Missbrauch findet immer in einem hierarchischen Verhältnis statt, auch der unter Erwachsenen: immer in einem Miss-Verhältnis von Stärke und Schwäche, von oben nach unten.
Es gibt also keinen einvernehmlichen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen! Welches Kind käme allen Ernstes auf die Idee, Sex mit mir haben zu wollen? Was für ein absurder Gedanke!
– es gibt bei fast jedem pädosexuellen Missbrauch Mitwisser. (Kollegen, die Frau und Mutter, die eigene Schwester, die Nachbarschaft usw.)
– in allen Fällen fühlt sich das Opfer erniedrigt und beschmutzt, ist traumatisiert und sein Vertrauen in Instanzen und Vertraute losgeworden. Die Folgen sind sehr oft: lebenslanger Alkohol- und Drogenabusus. Bindungsunfähigkeit, Vereinsamung, früher Tod.
– die Beschmutzung , der Vertrauensverlust führt dann zu jener Omerta, dem Schweigen der Opfer, auf das die Täter sich ganz oft, fast immer über lange Jahrzehnte hinweg verlassen können.
Unter anderem deshalb sind die Verlängerung der Verjährungs- und Hemmfristen so dringend geboten. Ich betrachte die jetzt formulierten veränderten Fristen als einen wichtigen Akt der Prävention.
Stichwort Prävention: da liegt noch sehr vieles im Argen. Später dazu noch ein wenig mehr. Grundsätzlich gilt immer: Aufklärung ist die beste Prävention.
Und hier meine ich: schonungslose Aufklärung. Und jetzt bin ich bei Euch und bei diesem einen Thema der diesjährigen Delegiertenkonferenz.
Zunächst: großes Kompliment und große Achtung vor Eurem
Entschluss, den Untersuchungsbericht in Auftrag zu geben. Mir ist keine Partei bekannt, die zu diesem oder einem ähnlich brisanten Thema sich hätte so schonungslos in die Karten schauen
lassen.
Es gibt immer Kritiker jedweden Tuns. Von mir aber gibt es zunächst einmal großes Lob.
Dieses Lob gebührt allen Beteiligten in eurer Partei, sehr explizit aber Simone Peter – die ganz offenbar die Aufgabe der historischen Aufarbeitung begriffen, ernst genommen und bravourös gemeistert hat. Chapeau! Cem möchte ich dabei aber auch nicht vergessen – mit ihm hab ich mich schon früh besprochen. Seit 2011 sind wir im Gespräch. Auch Cem gebührt mein herzlicher Dank.
Länger schon arbeite ich ebenso mit dem MdL Marcus Bocklet aus Hessen zusammen, mit Elkin Deligöz habe ich mich zweimal getroffen.
Und jetzt also liegt hier ein sehr umfangreicher Abschlussbericht des Instituts für Parteienforschung vor. Dieser Bericht sagt mir allerdings – der ich mich seit vielen Jahren mit dem Thema
beschäftige, – nicht so sehr viel Neues. Ich wusste, dass in Nordrhein-Westfalen einige Grüne bei Parteiveranstaltungen
einen „Pädophilen-Stammtisch“ eingerichtet hatten. Ich wusste von der Nürnberger „Indianerkommune“. Ich wusste, dass das Thema einvernehmlicher Sex mit Kindern und Jugendlichen bei Euch noch lange von bestimmten Parteimitgliedern propagiert wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, noch bis in das Jahr 1998 hinein.
(… Ca. 20 Zeilen gestrichen. Zur Verbindung zwischen der
„Humanistischen Union“ und einigen Grünen-Spitzen.)
Nun hat Professor Walter doch auch von teilweise erheblichen Widerständen berichtet, die sich ihm bei der Aufklärungsarbeit entgegen stellten. Mich wundert das nicht.
Dazu passt die aktuelle Nachricht, dass der ehemalige Büroleiter von Tom Königs als Angeschuldigter im Verfahren um den Missbrauch minderjähriger Mädchen die Aussage verweigert hat, nach dem Motto: beweist es mir doch! Im Zweifel steht Aussage gegen Aussage, es handelt sich ja fast immer um eine sog. 1:1-Situation. Solche Täterstrategien sind die Regel, sie sind deshalb allerdings nicht weniger unerträglich, weil sie die Opfer erneut zunächst mal in eine Unglaubwürdigkeitsfalle zwingen sollen…. Siebeneinhalb Jahre Haft lautet das Urteil in erster Instanz.
Großartig im Gegensatz dazu: die öffentliche Erklärung von Marie-Luise Beck zu dem an ihr begangenen Kindesmissbrauch! Solche öffentliche Äußerungen machen vielen Opfern Mut!
Ein Mitglied in unserem Betroffenenbeirat beim EHS schrieb mir: „… Mein Täter zum Beispiel war sehr engagiert, vor allem in der Frauen-, aber auch in der Kinderarbeit. Und viele dieser Frauen konnten daher nicht glauben, dass er, der er doch ein guter, geselliger, und engagierter Mensch war, zu so etwas fähig sein sollte.“
Gut, gesellig und engagiert – das waren die Grünen in den frühen Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts doch auch. Und genau deshalb rate ich grundsätzlich auch hier zur Vorsicht!
Und merke an: die Grünen damals waren durchaus Wegbereiter und Unterstützer höchst fragwürdiger Gesetzesvorschläge, die teilweise tatsächlich durch die Gremien gewunken wurden. … Immerhin haben die Grünen den Pädokriminellen starke ideologische und ideelle Freiräume geschaffen, unter dem Deckmantel von Liberté, Libertinage und Liberalisierung.
Stichwort Liberté:
Ich habe im Namen von Glasbrechen nach manchen Gesprächen mit Dani Cohn Bendit unseren Frieden mit ihm gemacht. Unter der Prämisse: es gilt das Recht der freien Meinungsäußerung – und ein jeder trägt selbst die Verantwortung dafür.
Andere in der Partei, auch heute noch aktive Mitglieder, haben am
Ergebnis von 2012 sicherlich mehr Anteil. Und zwar dadurch, dass sie eher reflexhaft reagiert haben. Wenn überhaupt. Ein früheres Eingeständnis der schweren Mängel in der nun unabweisbaren Gründungsgeschichte der Grünen in Westdeutschland, eine
frühere Einsicht in die Notwendigkeit von Aufklärung und Positionierung hätte Eurer Partei mit Sicherheit keine Stimmen gekostet. Ganz im Gegenteil. Die jungen Grünen waren ja kein Hühnerzüchterverein in Gründung, der sich bloß die Auswilderung von Füchsen auf die Fahnen geschrieben hätte.
Herr Professor Walter hat recht: die Grünen in den frühen achtziger Jahren waren angetreten, offensiv die bundesrepublikanische Wirklichkeit zu verändern. Aus dieser Attitude der Menschheitsrettung heraus bleibt es mir umso unverständlicher, wie die junge Partei nicht früher schon den Päderasten Einhalt gebieten konnte, denn deren Vorhaben erscheint zumindest aus heutiger Sicht als sehr leicht zu durchschauen. Unter dem Stichwort „Kinderrechte stärken“ wollten Päderasten auf ihre Kosten kommen. Ziemlich einfach, ziemlich furchtbar – finde ich.
Damit komme ich zu Opferforderungen an Eure Partei. Was bleibt zu tun, welche Fragen sind noch offen, wo kann eine Oppositionspartei sinnvoll einwirken auf Gesetzgebungsverfahren
der Regierenden?
Am 24. März 2010 sagte Renate Künast laut Spiegel-Online: „Die Kanzlerin will eine kritische Debatte über Missbrauch verhindern.“ (Eine kritische Debatte über die fragwürdige Propaganda in der eigenen Partei hatte Renate Künast dabei wohl noch nicht im Sinn.) – Tatsächlich hat die Schwarz/Gelbe Koalition in vier Jahren nur sehr wenig brauchbares und sinnvolles im Bezug auf Veränderung von Opferschutz und Opferrechten auf den Weg gebracht. Die Einrichtung einer Unabhängigen Stelle für Fragen des Kindesmissbrauchs war eine gute, eine richtige Idee. Die Einrichtung eines Fonds für Entschädigungszahlungen an Opfer – ich nenne diese lieber Anerkennungszahlungen – schien gut zu sein, hat sich allerdings bis heute noch nicht vollständig realisieren lassen.
Wie immer fehlt es also am Geld. Und wo es immer noch am Geld fehlt, fehlt es eigentlich am Bewusstsein. Am Bewusstsein für die Notwendigkeit zu dringend notwendigen Hilfe für die Opfer der Heime in der DDR, die Opfer der Heime in der BRD, die Opfer von familiärem und weiterem institutionellem Missbrauch.
Schaut man sich das gegenwärtig praktizierte Verfahren zur Hilfe von Opfern an, so muss leider festgestellt werden, dass Opfer immer noch leicht diskriminiert werden, als Bittsteller betrachtet, deren Bittstellung zigmal auf ihren Anspruch hin geprüft wird.
Es dauert ca. ein dreiviertel Jahr, bis ein Opfer pädosexuellen Missbrauchs im Rahmen des OEG eine doch eher bescheidene Zahlung zur Fortführung des eigenen Lebens erhält. Wenn überhaupt. Da muss sich dringend etwas tun.
Es bedarf immer noch und dringend weiterhin finanziell und personell gut ausgestatteter Beratungs- und Anlaufstellen für Opfer in Bund und Ländern.
Länder und Kommunen müssen dringend mehr in Anspruch genommen werden.
Es bedarf nach wie vor einer „Unabhängigen Kommission“, deren Mitglieder vom Bundestag gewählt werden, die mit einem gesetzlichen Auftrag und gesetzlichen Befugnissen zur Untersuchung der flächendeckenden pädokriminellen Taten in der BRD ausgestattet wird. Nur so können einer größeren Öffentlichkeit Ausmaß, Dimension, und Folgen des Missbrauchs deutlich gemacht werden.
Als Oppositionspartei im Bund, als Koalitionspartner in vielen
Ländern, als Regierende in BW ergeben sich aus meiner Sicht hier einige Ansatzmöglichkeiten.
Schulen zum Beispiel müssen durch Fortbildung und Präventionsveranstaltungen zu Schutzräumen werden. Schulpolitik ist Ländersache. Das wäre also auch ein Feld für euch.
Das Thema sexueller Kindesmissbrauch muss weiter und breiter in der Öffentlichkeit verankert werden. Kampagnen wie „Trau Dich“ und „Kein Raum für Missbrauch“ sind wichtige Instrumente dafür. Aber auch sie sind lediglich ein Beginn. Auf einem langen Weg.
Das seht Ihr Bündnisgrüne ja inzwischen glücklicherweise auch so. So habe ich sowohl Herrn Prof. Walter wie auch Eure Vorsitzende verstanden. Und jetzt lasse ich zum Schluss noch ein verdientes Mitglied Eurer Partei sprechen:
„Was lernen wir aus alle dem? – Es bedarf immer eines zweiten Blicks, nicht alle Liberalisierungsvorschläge sind per se schon klug, nicht alles ist cool. Bedenken, wenn es um die offensichtliche Einschränkung von Menschenrechten geht, sind notwendig. Der Zeitgeist muss nicht immer gleich zum Vorsitzenden gewählt werden. „
Den vorliegenden Dringlichkeitsantrag unterstütze ich sehr.
Um dessen Annahme bitte ich.
In diesem Sinne. Herzlichen Dank!
Hamburg, den 22.11.14
Adrian Koerfer
Vorsitzender Glasbrechen e.V.