Vortrag in Rostock anlässlich der Tagung „Gewalterfahrung, Übergriffigkeit und deren Bewältigungsstrategien in öffentlichen Einrichtungen und auf pädagogischen Feldern“

Gewalt-Verbrechen

Zu einigen Aspekten einer Opfer-Situation im Zeichen sexuell motivierten Kindesmissbrauchs.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin ein Betroffener sexuellen Kindesmissbrauchs an der Odenwaldschule. Um gleich mit einem Vor-Urteil aufzuräumen: die Odenwaldschule war bestenfalls vor meiner Zeit eine sogenannte „Elite-Schule“. Weder zu meiner Zeit noch später war die Schule noch in irgendeiner Weise beispielgebend oder gar besonders dazu geeignet, Schüler und Schülerinnen, mithin Schutzbefohlene auf hohem Niveau zu Abschlüssen zu führen. Ganz im Gegenteil, als staatlich anerkannte Privatschule lebt die Schule bis heute von dem leider schlimmen Privileg, viele Lehrerinnen und Lehrer ohne das zweite Staatsexamen und oft auch ohne jegliche Befähigung zum Lehramt zu beschäftigen. Dies vorweg.

Der Tatort – beschmutzt schon in den Anfängen

Die Odenwaldschule liegt abgelegen in einem Ausläufertal des Odenwalds. Schon Paul Geheeb wusste die Abgeschiedenheit dieses geschlossenen Systems für seine päderastischen Interessen zu nutzen. Mit Hilfe der großzügigen Hilfe der Berliner Familie Cassirer baute Geheeb ca. 15 Häuser im zeitgenössischen Jugendstil (!) an die Hänge des Hambachtals. Ca. 220 Schüler wurden von Geheeb zu Beginn seiner koedukativen Schule – eine große Neuigkeit damals, das Zusammenleben von Mädchen und Jungen auf einem Internatsflecken – und seinen Kollegen und Kolleginnen unterrichtet. Aber genau das war für Geheeb das Interessante an seinem neuen Modell. Wie sich später herausstellen sollte, hatte nämlich auch der alte Geheeb mit seiner Freilicht- und Nacktheitsideologie nicht bloß zu Zeiten revolutionäre pädagogische Entwicklungen im Sinn, sondern vielmehr auch ein Heranmachen an die jugendlichen Mädchen auf seiner Schule. Zeitzeuginnenberichte belegen das. Und auch, dass Geheebs Frau darunter sehr gelitten hat. Niemand aber wollte damals diese Problematik sehen, Hinweise an die Eltern der Kinder – von diesen selbst schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorgebracht – wurden ignoriert und negiert. Das ist ein Strang, der sich bis heute durch die im tiefen Grunde schreckliche Geschichte dieser Schule zieht.

Die Täter

Ab 1966 haben sich – das ist heute erwiesen und wird gerade von Professor Dr. Jens Brachmann und seinem Lehrstuhl wissenschaftlich in einer Studie belegt werden – nach und nach ca. 20 Lehrer und später auch Lehrerinnen auf eine Schule hin beworben und verabredet, an der es nach ersten Spähversuchen von Päderasten sehr einfach sein musste, an Kinder und Jugendliche heran zu kommen, die ungeschützt – weil ohne jede Verankerung in ihrem jeweiligen Zuhause – sehr leicht zu Opfern pädosexuellen Missbrauchs werden konnten. Nach und nach versammelten sich also im Lauf der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an dieser Schule, die sich durchaus mehr auf das Geschäft des Kindesmissbrauchs verstanden denn auf einen seriösen Unterricht. Von wegen Elite-Schule!

Die Lehrer setzten sich u.a. aus folgendem Personal zusammen: der Haupttäter Gerold Ummo Becker war evangelischer Theologe, hatte keinerlei Lehrbefugnis und bezog sein Renommee diesbezüglich einzig und allein von seinem Protegé, Hartmut von Hentig. Unterstützt wurde seine Position an der Schule von dem damals höchst einflussreichen „Bildungspapst“ und Gründungsdirektor des MPI für Bildungsforschung, Hellmut Becker – auf dessen Empfehlung hin meine Brüder und ich an die Odenwaldschule geraten sind.

Der zweite Haupttäter, Musiklehrer Wolfgang Held, hat wohl eine Ausbildung als Chorleiter absolviert und konnte Querflöte spielen und damit dieses Spiel auch unterrichten, eine Lehrerlaubnis oder gar Lehrbefugnis fehlte auch ihm. Sein Mentor und Protegé war der damals durchaus bekannte Zwölf-Ton- Komponist Wolfgang Fortner, dessen Adoptivsohn und gelegentlicher Liebes- und Lebenspartner Wolfgang Held war. Auch Fortner war ein Freund meiner Eltern.

Der dritte Haupttäter, der „Physiklehrer“ Jürgen Kahle, kam als Marinefunker und Gelegenheitsjobber an die Odenwaldschule. Ohne jegliche Ausbildung zum Lehrberuf. Seine Qualifaktion bestand offenbar im wesentlichen aus der Nähe zu den damals durchaus noch in gewissen Päderastenkreisen einflussreichen sog. „Wandervögeln“.

Weitere als Täter identifizierte und glücklicherweise nachweisbar belastete Täter wie H. A. oder auch der sog. „Arbeiterpfarrer“ S. H. kamen entweder direkt oder indirekt über Hentigs sog. „Laborschule“ in Bielefeld zur Odenwaldschule – nebenbei: eine Schule die Kinder zu gebildeten Erwachsenen heranbilden soll, Laborschule zu nennen, zeugt von sehr viel Chuzpe aus meiner Sicht – oder aber sie wurden ganz offenbar von dem sich langsam überdeutlich etablierten Pädosexuellen-Netz aus anderen Gründen und Orten angezogen.

Wie auch immer, gegen Ende der Siebziger Jahre spätestens hatten sich mindestens fünfzehn Päderasten an der Odenwaldschule zusammen gefunden, von denen zwei durchaus belastete Lehrer heute noch vor Ort unterrichten. Das alles sage ich im Bewusstsein des rechtlichen Vorbehalts, dass alle Taten mittlerweile nach gängigem Recht verjährt und nicht mehr anklagbar sind. Verleumdungsklagen von den hier namentlich benannten Tätern stehe ich aufgeschlossen gegenüber. Die Fakten sind hart und damit aus meiner Sicht gerichtsfest.

Die Opfer

Der Verein Glasbrechen e.V., dessen Gründungsvorsitzender ich bis heute bin, geht von mindestens fünfhundert Schülern und Schülerinnen als Betroffene pädosexueller Verbrechen an der Odenwaldschule aus. Diese Rechnung ergibt sich logisch und folgerichtig aus folgenden Fakten:

Ca. zwanzig Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Odenwaldschule haben über einen Zeitraum von mindestens dreißig Jahren hinweg sexuell motivierte Verbrechen an ihren Schutzbefohlenen begangen. Die Schülerzahl der Odenwaldschule betrug in der Zeit von 1966 bis 1986 ca. 300 Schüler per anno, jeweils etwa vierzig Schüler verließen pro Jahr die Schule, etwa ähnlich viele wurden per annum wieder aufgenommen. Das macht in einem Zeitraum von dreißig Jahren eine Gesamtzahl von potentiellen Opfern in Höhe von mindestens 1.200 Schülern – wenn ich allein die Abgänger zusammen rechne und die jahrzehntelange, quasi unbeobachtete Anwesenheit der Täter an diesem spezifischen Tatort.

132 Opfer pädosexueller Übergriffe an der Odenwaldschule haben sich 2010 bei den beiden Juristinnen Burgsmüller und Tilmann gemeldet. Dem Opferverein Glasbrechen liegen vielfältige, unzählige weitere Zeugenaussagen vor, die allesamt geeignet sind, den Bericht der beiden tapferen Aufklärerinnen von 2010 tatsächlich als „vorläufigen Abschlussbericht“ zu bezeichnen, so wie es Claudia Burgsmüller und Brigitte Tillman bekanntlich auch getan haben. Mich ärgert es bis heute, dass in den Medien immer wieder die Zahl von 132 Missbrauchsopfern genannt wird. So als gäbe es nicht viele andere Hinweise auf weitere, unzählige Betroffene und so, als gäbe es keine Dunkelziffer. Im Bereich sexuellen Missbrauchs beträgt diese laut Fachleuten 70 bis 80%. Rechnen Sie also in Zukunft bitte noch 70 bis 80 Prozent zu den 132 gemeldeten Opfern hinzu – und sie kommen auf eine weit höhere Zahl als 500.

Was bedeutet dies für eine historische Einordnung der päderastischen Verbrechen an der Odenwaldschule? Aus meiner Sicht bedeutet es nichts anderes, als dass an dieser schrecklichen Schule die grösste Zahl an Missbräuchen begangen wurde, die in der Bundesrepublik Deutschland als pädosexuelle Verbrechen in einer Institution bekannt geworden sind. (Von den furchtbaren geschlossenen sog. Jugendwerkhöfen der DDR spreche ich hier nicht.) Ich spreche von dem Vorzeigeobjekt der westlichen sog. Reformpädagogik, die einer ihrer letzten Apologeten, Wolfgang Edelstein nämlich, ehemaliger Lehrer an der OWS und später auch Direktor des MPI für Bildungsforschung, neulich im Deutschlandfunk beschönigend als unverzichtbare „demokratie-pädagogische Einrichtung“ bezeichnete. Zumindest die Begrifflichkeit wurde schon mal verändert. An weiterer Einsicht hat sich bei Wolfgang Edelstein noch nichts getan, nichts verändert! Er bezeichnet uns Opfer und Opfervertreter als „ungemein selbstsüchtig“. So wie der Doyen der Reformpädagogik, Hartmut von Hentig 2010 in der SZ behauptete: „Wenn überhaupt ist mein Freund Gerold Becker von einigen wenigen Schülern verführt worden“!

Die Wahrheit sieht anders aus: Gerold Ummo Becker gehört zu den schlimmsten päderastischen Serientätern der BRD-Geschichte. Im Lauf seiner Zeit an der OWS wurde er immer unverschämter, immer ungenierter und immer brutaler in seinen Handlungen. Glasbrechen rechnet mit ca. 250 Opfern allein dieses einen Täters. Keiner der Täterinnen oder Täter wurde jemals zur Rechenschaft gezogen.

Die Zöglinge der Odenwaldschule kamen aus den unterschiedlichsten Schichten und Klassen unserer Gesellschaft. Zu dem falschen Begriff einer „Elite-Schule“ führt vermutlich die Feststellung, dass die Familien Henkel, Porsche, Bosch, v. Weizsäcker, die Familie der Versandhaus-Kette „Quelle“ und viele andere wohlhabende Eltern ihre Kinder dieser Schule fatalerweise anvertraut hatten. Im Zuge der 68er Aufklärung hofften alle diese Eltern wohl auf eine Sanierung ihres oft sehr vorbelasteten Gewissens. … Hinzu kamen die sogenannten Stipendiaten der Firmen Freudenberg, Pfaff-Nähmaschinen und Telefonbau und Normalzeit (T&N), die zuvor jeweils eine Lehre in den Betrieben absolviert hatten und von ihren Arbeitgebern zur Absolvierung der Hochschulreife an die OWS geschickt wurden. Aus diesem Kreis älterer, reiferer Schüler ist mir kein einziger Missbrauch bekannt.

Ganz anders verhält es sich mit der dritten Gruppe von Odenwaldschülern, den sog. Sozial- oder Jugendamtskindern. Zu meiner Schulzeit machten diese etwa 5 – 10% der Schülerpopulation aus, Gerold Ummo Becker hat die Zahl sehr bewusst an die Nähe der 30 Prozent Grenze geführt, heute machen diese Schüler und Schülerinnen etwa 50 Prozent des Kundenkreises der Schule aus. Ich muss leider festhalten, dass in den Jahren 1970 bis 1986 viele dieser Schüler (sie waren in der überwiegenden Mehrzahl männlich) Opfer der Päderasten wurden. Gerold Ummo Becker hat diese Kinder teilweise persönlich aus Berlin oder anderen Orten abgeholt, und sie noch während der Fahrt auf die OWS in seinem VW-Bus missbraucht. Einer seiner Initiationsriten – muss man sagen. Aufgrund ihrer jeweiligen Vorgeschichte waren diese Kinder – wie die trebegängernden Jugendlichen in den „Auffängen“ der Grünen in Berlin und anderswo oder auch im Deutschen Kinderschutzbund zu sehr opfertauglich, als dass sie sich noch wirklich wehren konnten. Ihre Abhängigkeit war schlichtweg zu gross. Das traurig Interessante ist nun, dass sich gerade in dieser Kategorie (Abhängigkeit nämlich) die angeblich sozial schwachen Kinder mit denen aus den sog. oberen Schichten trafen. Denn auch diese Kinder und Jugendlichen kamen oft aus emotional verwahrlosten Elternhäusern. Sie fühlten sich zu Hause in der Mehrzahl unverstanden, ungehört, kaum geliebt oder betreut. … Sie blieben zu Hause unverstanden und ungehört.

Ein perfektes Opferpotential also für selbstsüchtige, egozentrierte, brutalste Täter. Ein großartiges Opferbiotop hatte sich an der OWS angesammelt, und das über viele Jahre hinweg. Immer wieder kam Frischfleisch an die Schule, immer wieder gab es die gleichen hilflosen, unwissenden Kinder und Jugendlichen. Aber nicht dieselben. Das war für Päderasten ungemein reizvoll. Dieser jeweils wieder neue Schwall an hoffnungsvollen Kindern, deren Erwartungen und Lebensentwürfe man missbrauchen und betrügen konnte! Um lediglich die eigenen Interessen tagtäglich zu befriedigen.

Folgen und Auswirkungen der Taten

Waren meine bisherigen Darlegungen eher Täter- und ortsspezifisch, so will ich jetzt allgemeiner die Folgen der Taten für alle Opfer pädosexuell motivierter Gewalt beleuchten, bis ich dann zum Schluss nochmals auf die Aufarbeitung und Opferwahrnehmung an der Odenwaldschule zu sprechen komme.

In der Bundesrepublik Deutschland leben laut Experten gegenwärtig laut Experten etwa sieben bis neun Millionen Betroffene von pädosexuellem Missbrauch. In der großen Mehrzahl sind dies Frauen, die in dem ebenfalls geschlossenen System der eigenen Familie oder im familiären Nahbereich von männlichen Verwandten oft über viele Jahre hinweg missbraucht wurden – oder immer noch werden. Kindesmissbrauch hört nämlich nicht auf, während wir darüber sprechen. Das Bundeskriminalamt geht von einer Zahl von 40 täglich missbrauchten Kindern aus, was laut deren Aussagen zu über zehntausend Opfern pädosexueller Gewalt per annum führt. Alle Opfervertretungen aber rechnen auf diese festgestellte Zahl nochmals mindestens sechzig Kinder pro Tag hinzu, um die Dunkelziffer auch hier nur annähernd zu berücksichtigen.

Jedes vierte Mädchen, jeder siebte Junge wird mindestens einmal in seinem Leben Opfer eines pädosexuell motivierten Übergriffs. In Deutschland. Jetzt noch. Statistisch erwiesen braucht ein Kind mindestens vier Anläufe, um als Opfer einer sexuell motivierten Gewalttat gehört und – weitergehend – verstanden zu werden.

Das sind zugegeben schreckliche Zahlen. Wir müssen alle daran arbeiten, sie schleunigst zu reduzieren.

Denn, – jetzt komme ich zu der Frage, was aus Opfern oder Betroffenen wird, nachdem sie zu solchen wurden – die Folgen des Missbrauchs sind fatal!
„Kindesmissbrauch ist Seelenmord“, schreibt eine bekannte deutsche Psychologieprofessorin.

Kindesmissbrauch hinterlässt auch sichtbare Spuren im Gehirn. Bildgebende Untersuchungen lassen das zu: Unter bestimmten Bedingungen lässt sich eine spezifische Verletzung, eine Wunde an einer ganz bestimmten Stelle im menschlichen Gehirn nachweisen.

„Es handelt sich vermutlich um die Störung eines umfassenden Netzwerkes, in dem autobiographische Erinnerungen gespeichert und mit emotionalen Beiwerten verbunden werden. Ähnliches ist bei posttraumatischen Verhaltensstörungen zu erwarten.“ Das schrieb mir der großartige Hirnforscher und ehem. Leiter des MPI für Hirnforschung, Professor Wolf Singer.

Pädosexueller Kindesmissbrauch versetzt die Opfer desselben in eine fatale, lebenslänglich anhaltende Form der Persönlichkeitsveränderung. Ich spreche hier auch von mir: ich selbst hatte Jahrzehntelang das Gefühl, immer zu versagen. Immer eben gerade nicht da stark zu sein, wo ich hätte stark sein müssen, immer eben nicht nein dort zu sagen, wo ich hätte nein sagen müssen, und jede mögliche, auf Dauer angelegte Nähe eines anderen Menschen bei mir wurde auf unerträgliche seelische Prüfstände gestellt, – gegen die das Laufen über luftige, freischwingende Hängebrücken ein Kinderspiel ist.

Viele Opfer der Täter an der OWS leben heute nicht mehr. Einige haben Suizid begangen, der unmittelbar mit den Taten in Verbindung zu bringen ist. Andere sind in jungen Jahren viel zu früh verstorben, weil sie sich weiter selbst zerstört haben, nach dem sie fremdzerstört wurden.
Der Verein Glasbrechen hat in den letzten fünf Jahren drei Tote zu beklagen. Alle Opfer, keiner von ihnen wurde älter als fünfzig Jahre.

Viele Betroffene des Missbrauchs kommen bis heute nicht oder kaum vor die Tür, sind eben gerade nicht in der Lage, Anträge auf Anerkennungszahlungen oder andere soziale Hilfen zu stellen, sie sind schlicht nicht in der Lage zu Ämtergängen. Manche der Opfer benötigen ständige, ambulante Begleitung, und sei es auch durch Betreuungshunde. Viele der Opfer leiden tatsächlich unter schweren psychotischen Traumata, unter Abspaltungen oder Schizophrenien.

Kleiner Exkurs: die wenigsten Täter und Täterinnen im Bereich des Kindesmissbrauchs sind sog. Pädophile. Die meisten von ihnen waren oder sind ganz gewöhnliche Kriminelle, die ohne jedes Gedenken an die Folgen ihrer Taten Kinder selbstsüchtig missbrauchen, benutzen, erniedrigen, in Abhängigkeiten zwingen, sie unendlich tief mit hinab ziehen und lebenslang beschmutzen. Exkursende.

Was also ist zu tun, was könnte getan werden?

Meine Mantren zum Kindesmissbrauch lauten:

– jeder sexuelle Missbrauch findet immer in einem hierarchischen Verhältnis, auch der unter Erwachsenen übrigens. Immer existiert ein Miss-Verhältnis von Stärke und Schwäche, von oben nach unten.

– es gibt bei fast jedem pädosexuellen Missbrauch Mitwisser. (Kollegen, die Frau des Täters, die Mutter des Kindes, die eigenen Geschwister, die Nachbarschaft usw.) Diese Mitwisserschaft gilt es in ihrer Rolle zu hinterfragen und gleichzeitig muss Mut gemacht werden, dass Mitwisser ihr Schweigen brechen!

– in allen Fällen fühlt sich das Opfer erniedrigt und beschmutzt, ist traumatisiert und daher sein Vertrauen in ordnungsgebende Instanzen und Vertraute losgeworden. Die Folgen sind sehr oft: lebenslanger Alkohol- und/oder Drogenabusus. Bindungsunfähigkeit, Vereinsamung, früher Tod.

– die schon erwähnte Beschmutzungsthematik, der tiefgreifende Vertrauensverlust führt dann zu jener Omerta, dem Schweigen der Opfer, auf das sich die Täter und Täterinnen ganz oft, fast immer über lange Jahrzehnte verlassen können. Unter anderem deshalb sind die Verlängerung der Hemm- und Verjährungsfristen dringend geboten…

Denn ein Satz gilt hier immer: Aufklärung ist die beste Prävention. Und Prävention ist dringend geboten angesichts der immer noch gleich bleibenden Opferzahlen, gestern wie heute wie morgen. Kindesmissbrauch in unserer Gesellschaft ist beinahe schon ein Atavismus.

Das Täterverhalten bleibt immer eine ungeheure, menschenverachtende Respektlosigkeit – die unserer Gesellschaft scheinbar immanent ist.

as also ist zu tun? Aufklärung tut not, erzählen tut not, zuhören und beobachten: viele Betroffene von pädosexuellem Missbrauch geben Zeichen, suchen Hilfe. Oftmals sind die Zeichen sogar eindeutig: das Kind verstummt zusehends, zieht sich zurück, schaut einem nicht mehr in die Augen. Bettnässen kann auch ein Zeichen sein. Es sind oft wenige Indizien in einem veränderten Sozial-verhalten, die auf einen Missbrauch schließen lassen. Mein dringender Appell daher: schauen Sie hin, seien sie vorsichtig aufmerksam.

Haltung der OWS und unabhängige Aufarbeitung der Verbrechen an dieser „failing school“.

Der Begriff der „failing school“ stammt von dem Schweizer Erziehungswissenschaftler Damian Miller.
Er schließt sich damit den auch hier anwesenden Experten an, die von einer schwer belasteten Geschichte der OWS ausgehen, die niemals zu löschen, zu sühnen oder gar zu tilgen sein wird. Immer wird die OWS in Zusammenhang gebracht werden müssen mit dem massenhaften, epidemischen pädosexuellen Missbrauch an unzähligen Schutzbefohlenen. Immer wird die OWS ein Synonym bleiben für eben diese Form der Zerstörung von Kinderseelen, denen diese Schule im Grunde ihre Zukunft genommen hat und sie, statt zu bestärken, um einen Großteil ihres möglichen Lebensglücks betrogen hat. Das ist eine leider entsetzliche Tatsache. Ich spreche daher von einer kontaminierten Schule.

Glasbrechen hat sich unter anderen drei Ziele gesetzt, zu Beginn unserer Arbeit 2010:
a) über die Taten aufzuklären,
b) für die Opfer und Betroffenen eine Anerkennungszahlung für das erlittene Leid zu erreichen (von „Entschädigung“ zu sprechen, verbietet sich hier ganz und gar – denn „Entschädigungszahlungen“ müssten bei ca. dreißig tausend Euro anfangen und nicht bei sechzig tausend Euro aufhören). Und c) eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu den Verbrechen zu verlangen und mit zu organisieren.

Alle diese drei Ziele haben wir erreicht, wenn auch mit Abstrichen in jeder Finanzierungsfrage. Wir sind glücklich darüber, dass sich zwei renommierte Forschungseinrichtungen – auch dank der wunderbar weisen Hilfe des Herrn Prof. Dr. Volker Kraft – finden ließen, die sich mit Aufarbeitung auskennen. Das IPP in München hat schon die Verbrechensvergangenheit im Kloster Ettal aufgearbeitet, und Herr Professor Dr. Jens Brachmann ist als Autor einschlägiger Untersuchungen ebenfalls bekannt geworden.

Zwei unabhängige Fachinstitute gefunden zu haben, ist uns gerade deshalb so wichtig, weil uns die OWS- Verantwortlichen seit Beginn unserer Arbeit lieber weder gesehen noch gehört hätten. Mir wurde die Polizei auf den Hals gejagt, im Internet wurde ich von einem Lehrer der heutigen OWS auf das übelste diffamiert, ein Kriseninterventionsteam wurde gegen mich in Stellung gebracht, eine Buchseite musste
geschwärzt werden, weil ich eine juristisch nicht ganz sachdichte Formulierung gebraucht hatte – obwohl ich wieder von einem pädosexuell motivierten Übergriff eines Lehrers berichten musste.

Nie hat die Odenwaldschule – von einigen kleinen Lippenbekenntnissen abgesehen, – auch nur ansatzweise verstanden, welche Schuld sie als Täterorganisation auf sich geladen hat.

Die aktuellen Schüler verfassten in größter Not ein Transparent mit dem Text: „Eure Vergangenheit zerstört unsere Zukunft“. Eine grobe Unverschämtheit, die nicht gerade auf guten Unterricht (immer noch nicht) schließen
lässt.

Ich erwarte die Untersuchungsberichte auch deshalb allein schon mit großer Freude. Es ist wichtig, nach dem Bericht der Juristinnen Tilmann und Burgsmüller noch Dokumente in die Hand zu bekommen, die auch die größten Ignoranten und Nostalgiker von ihrer negierenden Haltung gegenüber der Tätertradition wie gegenüber den zahllosen Betroffenen abbringt oder an dieser Haltung zumindest Zweifel wachsen lässt. Das wenigstens bleibt uns zu hoffen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Macht aus dieser Schule endlich, einzig und allein eine Gedenkstätte, ein Fortbildungszentrum gegen sexuellen Kindesmissbrauch, ein Mahnmal. Das wäre mein persönlicher Rat an alle verantwortlichen Behörden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Rostock, den 28. Mai 2010

Vortrag-Rostock_20150528 (PDF)

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